ERNST BUCHMÜLLER IM GESPRÄCH MIT CHRISTOF
VORSTER
Ernst Buchmüller:
In "Hildes Reise" geht es um den verstorbenen Martin Hilder –
Sohn aus reichem Haus – um sein Testament und die Folgen. Trotzdem heisst
der Film nicht "Martins Reise"; denn für seine Freunde war er
nicht Martin sondern "Hilde", halt eben eine "Schwester",
d.h. er war schwul. Warum dieses "Tuntengeschwätz", wie es der
Protagonist Steff formuliert?
Christof Vorster:
Für mich stellt diese Namensgebung einerseits klar, wo ich als Autor stehe,
wo meine Sympathie hingeht: Zu den Freunden und ihrer Welt. Andererseits hat
dieses "Tuntengeschwätz" eine tiefere Bedeutung: Martin ist tot
und wird somit irgendwie zu einem "Geschlechtslosen".
Ich gehe den Fragen nach: Was löst ein Todesfall aus? Wie reagieren unterschiedliche
Menschen darauf? Mein zentrales Interesse gilt den Zurückgebliebenen und
ihrem Handeln in einem solchen Lebensabschnitt. Da spielt es keine Rolle mehr,
ob sich diese Gefühle auf eine Frau oder einen Mann, einen Hetero- oder
Homosexuellen, einen In- oder Ausländer beziehen. In der Nähe des
Todes werden die Kategorisierungen aus unserem Alltag wertlos. Dort wird es
echt... Und sehr spannend.
Ernst Buchmüller:
In "Hildes Reise" geht es auch um zwei Männer aus dem Leben von
Martin Hilder: Steff – nicht mehr ganz jung – sein Ex-Lover, sein
Haupterbe und ein Schreiner in Finanznöten. Und es geht um Rex –
sehr jung – der aktuelle Geliebte von Martin, HIV-positiv und ein Mann,
der sich nicht auf die Kappe scheissen lässt!
Christof Vorster:
"Hildes Reise" ist tatsächlich die Geschichte von Steff und Rex.
Es war ein Erlebnis, diese zwei grundverschiedenen Figuren zu entdecken, ihr
Inneres kennen zu lernen. Ich wollte von Anfang an eine Liebesgeschichte erzählen,
aber sie sollte eigenwillig und schräg sein. Nicht eine weitere Coming-Out-Geschichte,
sondern die Geschichte zweier Männer, die ohne es zu wollen, der Liebe
begegnen. Wer weiss, vielleicht war ja Hilde daran beteiligt ...
Der Film gibt ein anderes Bild des Virilen, des Männlichen, ein anderes
Bild, als jenes, welchem wir täglich am Fernseher und auf der Strasse begegnen.
Es scheint heute immer noch so zu sein, dass ein Mann erst ein Mann ist, wenn
er die Fähigkeit zu unterdrücken, zu zerstören und zu lügen
hat. Männer haben doch noch ganz andere Qualitäten. Und auf die sollten
wir uns dringend und möglichst bald besinnen.
Ernst Buchmüller:
Warum dauert es fast einen halben Film lang, bis Steff endlich über den
Verlust von Martin weinen kann?
Christof Vorster:
Steff ist verletzt. Irgendwo war Hoffnung in ihm, seine Beziehung zu Martin
Hilder vielleicht doch noch retten zu können. Durch Martins Tod ist diese
Hoffnung plötzlich zerstört und er reagiert dementsprechend: Er macht
dicht. Wenn schon keine Liebe, dann wenigstens Cash! Nur geht das nicht auf,
und nach und nach zerbröselt diese Betonschicht auf seiner Seele. Ja, und
das dauert manchmal seine Zeit. Im Film und auch im Leben...
Ernst Buchmüller:
Rex ist im Gegensatz zu Steff sehr direkt, ohne "Verpackung" und ziemlich
aggressiv.
Christof Vorster:
Rex ist eigentlich tieftraurig, doch das zeigt sich bei ihm in Wut, in Aggression.
Es ist die Wut der Ausgegrenzten und Kranken. Er ist zwei- , dreiundzwanzig,
HIV-positiv und muss dieses Schicksal ertragen.
Die Vorstellung bricht mir fast das Herz: Da hast du das Leben noch vor dir
und plötzlich gibt es nur noch Tabletten, Termine, Ängste. Da musst
du einfach um dich schlagen!
Im Weiteren ist Rex ein Purist. Er verlangt absolute Ehrlichkeit und Fairness
gerade im Umgang mit Hildes Tod; vielleicht auch, weil er der Nächste sein
könnte, der stirbt. Wird man an seiner Abdankung auch Lügen über
ihn und seine Krankheit erzählen?
Ernst Buchmüller:
Wenn Steff und Rex Frauen wären, die um denselben Mann trauern, hätten
sie sich wohl sehr schnell umarmt. Warum gibt es so wenig Zärtlichkeit
zwischen den Männern in diesem Film?
Christof Vorster:
Die Zärtlichkeit gewinnt. Die ganze Geschichte muss sein, damit Steff und
Rex überhaupt erst an dieses Gefühl herankommen und es zulassen können.
Zuviel stand vorher für beide im Weg. Erst am Schluss gibt es genügend
Vertrauen und Wissen um den andern, dass Berührung und Zärtlichkeit
möglich werden.
Das war auch für die beiden Hauptdarsteller Oliver Stokowski und Michael
Finger sehr anstrengend: Sieben Drehwochen darauf warten zu müssen, ein
echtes, positives Gefühl zu zeigen und das ist dann nicht einmal die grosse
Liebe, sondern eben "nur" diese feine Pflanze Zärtlichkeit. Aber
gerade dadurch wird das Kleine am Schluss sehr gewichtig und wertvoll.
Ernst Buchmüller:
Martin Hilder ist an AIDS gestorben, auch wenn seine Mutter sagt, es sei Krebs
gewesen. Rex ist HIV-positiv, nimmt seine Kombinations-Medikamente innerhalb
eines minutiösen Zeitplans, der sein Leben bestimmt und im Film sehr genau
dargestellt wird. Ist "Hildes Reise" ein Film über AIDS?
Christof Vorster:
Ja. Nein. "Hildes Reise" erzählt aus dem Leben von Menschen im
Moment eines Todesfalles. Wenn jemand stirbt, ist es ja oft nicht die grosse
Trauer, die da ausbricht, sondern ganz andere Elemente werden stark: Geld, Kirche,
Familie, Besitzansprüche etc. Das gibt die Grundlagen für einen sehr
explosiven und hintergründigen Cocktail, den ich auch mixen wollte. Es
war aber beim Entwickeln des Stoffes für mich klar, dass AIDS in dieser
Geschichte einen prominenten Platz haben muss. Das hat mit Ehrlichkeit zu tun.
Das Thema zieht sich seit rund 20 Jahren durch mein Leben, es war eigentlich
jeden Tag präsent und so wurde es für mich zwingend, darüber
zu berichten. Ich möchte diese vier Buchstaben aufbrechen und ihnen Gesichter,
Geschichten und etwas sinnlich Erlebbares geben. Ich wünsche mir, dass
zwei Leute, die den Film gesehen haben, nachher etwas miteinander reden können.
Das kann über AIDS sein oder über irgend eines der anderen Themen,
von denen "Hildes Reise" berichtet.
Ernst Buchmüller:
In "Hildes Reise" spielen zwei heterosexuelle Schauspieler zwei schwule
Männer.
War das irgendwann ein Problem?
Christof Vorster:
Gacker!!! Ich suchte ja keine Sexpartner, sondern zwei Schauspieler, die die
Kraft und Fähigkeit haben, die komplex angelegten Figuren mit Leben zu
füllen. Beide Schauspieler, Oliver Stokowski und Michael Finger, waren
meine Wunschbesetzung und als die Produktion die beiden unter Vertrag hatte,
war ich einfach glücklich. Wir haben uns im Zeitraum eines Jahres auf den
Dreh vorbereitet, uns dabei gegenseitig viel erzählt und auch Fragen gestellt.
So sind wir uns – jenseits sexueller Präferenzen – nahe gekommen.
Es entstand das Vertrauen das es braucht, um aus dem Innern der Figuren erzählen
zu können. In kleinen Momenten – zum Beispiel in Konfliktsituationen
– habe ich aber schon Unterschiede zwischen den Heteromännern und
den Schwulen festgestellt. Wenn ich zum Beispiel zickig wurde, wurden die Heteromänner
bockig.
Primär hat uns die Lust auf einen spannenden Film zusammengehalten und
jeder musste auf seine Art einen Zugang zu diesem Drehbuch finden. Oliver Stokowski
hat sich völlig in seine Figur verbissen. Er war manchmal mehr Steff als
sich selbst, und er hat all sein Können und seine Erfahrung in diese Arbeit
hineingelegt. Er musste die schwierige Aufgabe meistern, sich im Verlauf von
90 Minuten Film wie eine Muschel nur ein kleines Bisschen zu öffnen. Das
verlangt eine riesige Konzentration und gerade das Fehlen der grossen Gefühlsausbrüche
dieser Figur machen sie so attraktiv und spannend für mich.
Als ich Michael Finger die Figur des Rex anbot, sagt er, das könne er nur
spielen, wenn er ein vollkommen neues Körpergefühl entwickle. Er hat
Monate lang trainiert und eine spezielle Diät gemacht, um auf diesem Weg
die Figur zu erfahren. Die beiden, wie auch die andern Beteiligten (und das
waren viele!), haben wirklich alles gegeben. Ihnen verdanke ich, dass der Film
funktioniert.
Ernst Buchmüller:
Das ist ein Film über Freundschaft, Tod, Glaubwürdigkeit und Geld.
Beenden Sie bitte die folgenden Sätze:
Christof Vorster:
Freundschaft bringt ..... Wärme, Geborgenheit, Lachen und Wohlbefinden
in mein Leben. Echte Freundschaft bedeutet mir mehr als die grosse Liebe.
Der Tod könnte ..... noch lange auf sich warten lassen. Er wird das Spiel
gewinnen, soviel ist klar. Aber vorher gibt es noch so viel zu tun, zu erleben
und zu geniessen. Der Gedanke an den Tod ist es, der die Zeit so wertvoll macht.
Glaubwürdigkeit kann ..... alles verändern, ins rechte Licht rücken,
echt machen. Wir alle sehnen uns nach Glaubwürdigkeit und Ehrlichkeit,
und kriegen doch jeden Tag ein bisschen weniger davon.
Das Geld hat ..... die Ethik verdrängt. Wo es um Geld geht, scheinen sämtliche
Werte, die wir uns hart erkämpft haben, ihre Gültigkeit zu verlieren.
Ernst Buchmüller:
Ein Spielfilm ist eine lange Entwicklung. Was war am Anfang dieser Geschichte?
Christof Vorster:
Am Anfang stand ein Thriller. Es ging irgendwie um einen Stricher und eine Leiche
und um Geld. Danach musste ich lange um den Stoff kreisen, um seine Essenz zu
finden. Und vielleicht auch, um den Mut zu finden, mich ehrlich den Themen dieser
Geschichte zu stellen. Irgendwann stellte ich mir die Frage: Was wäre,
wenn das dein letzter Film wäre? Was würde ich dann erzählen?
Von da an ging's recht einfach und das Projekt hat sich plötzlich auch
gut entwickelt.
Ernst Buchmüller:
Sie sind sowohl Regisseur als auch – gemeinsam mit Gabriele Strohm –
Drehbuchautor dieses Films. Wo haben sich Regisseur Vorster und Drehbuchautor
Vorster gestritten?
Christof Vorster:
Die beiden gehen recht liebevoll miteinander um. Trotzdem war der Regisseur
manchmal sauer auf den Autor, der sich da so viel Tolles ausgedacht hat, das
der Regisseur dann in die materielle Welt umsetzen muss. Das Übelste waren
die Autofahrten. Im Drehbuch steht dann oft nur ein Satz: "Steff und Rex
sitzen im Wagen und fahren auf der Autobahn." Wenn dann der Regisseur nach
zwölf Stunden im strömenden Regen, bei netten acht Grad und bis auf
die Knochen tiefgefroren vom Tieflader gestiegen ist, hat er den Autor insgeheim
schon verflucht.
Okay, sie sprechen natürlich den Autorenfilm an. Für mich persönlich
ist es der beste Weg, eine starke Geschichte zu erzählen. Es gibt aber,
wie immer, ungezählte Möglichkeiten. Welche man wählt, ist nicht
so wichtig. Was ich nicht mag, sind "Marktforschungsfilme", in denen
durch die Auswahl von Stoff und Darstellern rein rechnerisch auf einen Erfolg
gesetzt wird, ohne dass man eigentlich etwas Zwingendes zu erzählen hat.
Ernst Buchmüller:
Wenn Sie jetzt den Film sehen, ist er so, wie Sie ihn wollten und ihn sich vorgestellt
haben?
Christof Vorster:
Ja, ich liebe ihn. Er hat die Kraft, die Ausstrahlung und Schönheit, die
ich mir gewünscht und erhofft habe. Da es mein dritter Film ist, wusste
ich bereits vor der Realisierung, dass sich ein Film in weiten Teilen selber
gestaltet, dass ich eigentlich nur ein Verkehrspolizist bin, der auf einer sehr
stark befahrenen Kreuzung einen Ordnungsjob machen muss. Zu viele Faktoren spielen
da mit, als dass man einfach eine Bestellung fürs Produkt aufgeben könnte.
Doch die Essenz und die Aussage ist da und darauf bin ich, ehrlich gesagt, auch
ein bisschen stolz.